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Andreas Jürgens

Waldbaden und Waldsterben, Sagenwald und Nutzwald: Wälder sind Orte der Fülle und der Gegensätze. Das Dunkle, das Geheimnisvolle, steckt in ihnen ebenso wie natürliche Heilkräfte. Sie sind Klimaschützer und Rohstofflieferanten. Drei Billionen Bäume soll es auf der Erde geben. Aber was macht Wälder so anziehend und wie lange reicht diese Kraft noch? Tauchen wir ein in die Welt der wandlungsfähigen Riesen.


»Allenthalben starrt schrecklicher Urwald, dehnen sich hässliche Sümpfe.«

Publius Cornelius Tacitus


Wenig schmeichelhaft ist die Darstellung der Landschaften, die der römische Geschichtsschreiber Tacitus 98 n. Chr. in seiner Schrift »Germania« festhielt. Schon vor ihm berichteten die Römer von barbarischen Stämmen, die die offene Feldschlacht mieden und sich in ihre dichten Wälder zurückzögen, nur um dann überraschend von allen Seiten anzugreifen. Auch ein gewisser Arminius, Germanenfürst und einst selbst in Roms’ Diensten, bediente sich dieser Taktik und besiegte so mit seinen Rebellen ganze Legionen. Noch heute erhebt sich sein Denkmal zwischen den Bäumen des Naturparks Teutoburger Wald.

Während der enorme Holzbedarf in vielen Provinzen des Römischen Reiches schon damals zu großflächigen Rodungen geführt hatte, blieben die Wälder Nord- und Mitteleuropas noch weitgehend erhalten. Wurden in den wachsenden bevölkerungsreichen Römerstädten bereits Gärten zu Zier- und Erholungszwecken angelegt, lebte man im Norden und Osten häufig noch in Waldgebieten. Diese Nähe zum Wald prägte und prägt große Teile Europas kulturell, ökologisch und wirtschaftlich. Heute sind in den meisten Ländern unseres Kontinents rund ein Drittel der Fläche bewaldet – in Finnland sind es sogar über 70 Prozent.

Der Kult um den Baum

Ein heiliger Hain im Jahr 723. Ein Missionar setzt seine Axt an eine mächtige Eiche und beginnt sie vor den Augen der aufgebrachten Menge zu fällen. Aus Sicht der einheimischen Heiden ein ungeheuerlicher Vorgang, der schwer bestraft werden muss und den Zorn ihres Donnergottes nach sich zieht. Doch der Missionar wird von fränkischen Soldaten begleitet. Als der Baum schließlich umstürzt, fragt er die Umstehenden: »Nun, wo bleibt der Donner?« – dessen Ausbleiben überzeugt sie davon, dass kein Zornesblitz sie erschlagen wird. Der axtschwingende Bonifatius, ein angelsächsischer Mönch und späterer Bischof, ließ an die Stelle der dem germanischen Gott des Donners geweihten »Donar-Eiche« eine Kirche bauen. Aus dem Holz eben dieses mächtigen Baums, den er zuvor gefällt hatte.

Wie alt mag die Eiche – die gewissermaßen gleich zweimal zum Heiligtum wurde – bei ihrer Fällung gewesen sein? Eichen zählen jedenfalls zu den langlebigsten Baumarten und können über 1000 Jahre alt werden. Die stärksten erreichen einen Stammumfang von 15 und eine Höhe von über 35 Metern. Solche Baumriesen mussten selbst die naturverbundenen Menschen von damals so beeindruckt haben, dass sie ihnen heilig waren. Wenn ihr Donnergott auch keine Blitze schickte, als man die Axt an seinen Baum setzte – beim Fall der Eiche dürfte der Boden unter den Füßen der Anwesenden gebebt haben. Vielleicht haben ihre Wurzelreste die Grundlage für neue Bäume bereitet, die bald darauf wuchsen. Im hessischen Fritzlar erinnert heute eine Bonifatiusstatue an die Fällung des heiligen Baums – sie zieht bisweilen sogar protestierende neuheidnische Gemeinschaften an, die der alten Götter gedenken.


Flüsternde Blätter und Zweige, die sich liebend umschließen.


Dodoni im Nordwesten Griechenlands. Unterhalb des Tomarosberges liegen die Ruinen eines antiken Heiligtums. Sie gelten als Spuren eines alten Baumkults, der nach und nach mit der Verehrung des Zeus verschmolz. Auch hier war es eine heilige Eiche, ein »Eichenorakel«, das später dem griechischen Herrn über Blitz und Donner geweiht wurde. Das Orakel teilte sich durch das Rauschen seiner Blätter und dem Gurren der schwarzen Tauben, die in ihm nisteten, mit. Aus ihnen meinten die Priesterinnen die Stimme Zeus’ zu hören. Aristoteles betrachtete den Ort gar als Wiege der Hellenen. Pilger aus allen Teilen Griechenlands kamen hierher und bald bildete sich eine kleine Siedlung mit Tempel und Theater. Dort, wo heute nur noch Ruinen eine Ahnung von dem einstigen Pilgerort geben, pflanzt man wieder neue Eichen.

Vor solchen Kulissen können besonders traurig-romantische Geschichten entstehen, wie die von Philemon und Baucis. In seinem Zorn auf die Menschen suchte Zeus zwei Gerechte, die er verschonen wollte – Ähnlichkeiten mit biblischen Personen sind nicht zufällig – und wählte ein altes Paar, das sich über viele Jahrzehnte guter wie schlechter Zeiten treu geblieben war. Während eine Flut alles Leben an Land mit sich riss, machte sie vor den beiden Alten Halt. Doch als sich das Wasser mit der Zeit wieder zurückgezogen hatte, waren die Liebenden in zwei starke Bäume verwandelt – Philemon in eine Eiche, Baucis in eine Linde. Ihre Zweige sollen einander fest umschlungen haben, genau so, wie sie es als Menschen getan hatten. Auch hier, so heißt es, »rauschte das Lob der Gottheit durch die flüsternden Blätter.«.

Seit jeher stehen Bäume als Symbole für Stärke und Lebenskraft, gelten mit ihren tiefwachsenden Wurzeln als ›geerdet‹. Das gilt vielleicht heute umso mehr, als dass immer weniger Menschen einen Wald vor der Haustür haben. Zumindest einen kleinen Teil davon stellen wir uns einmal im Jahr ins Wohnzimmer: Der Weihnachtsbaum hat zwar keine eigentlichen Blätter und wird zumeist in Monokulturen gezogen, doch reicht sein Ursprung bis in die vorchristliche Zeit zurück. Der immergrüne Baum gab zur Wintersonnenwende Hoffnung auf den kommenden Frühling mit neuer Fruchtbarkeit.

Erst ab dem Mittelalter begann man mit dem Schmücken des ganzen Baums, der einen mit Äpfeln behängten Paradiesbaum symbolisierte. Aus dem Paradies wurden wir bekanntlich vertrieben, weil wir verbotenerweise das taten, was wir heute zur Festzeit mit Freude tun dürfen. Auch wenn die Erkenntnis dabei weitaus geringer ausfällt. Aber kann der Wald als Sinnbild für ein ursprüngliches Idyll gesehen werden, in dem wir im Einklang mit Pflanzen und Tieren lebten?


Seit jeher stehen Bäume als Symbole für Stärke und Lebenskraft, gelten mit ihren tiefwachsenden Wurzeln als ›geerdet‹


Woman with loneliness and sadness in the nature.
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Vom Angstraum zum Sehnsuchtsort

Nebel steigt auf zwischen den Baumwipfeln, die Nacht bricht an und ein Eulenruf hallt von irgendwoher durch das Halbdunkel. Dahinten knacken Äste, zwischen den Bäumen huscht etwas schnell vorbei – ist das eine Wildschweinrotte, durchaus angriffslustig, wenn man ihren Jungtieren zu nahe kommt? Gibt es hier eigentlich Wölfe? Immerhin, nachdem sie in weiten Teilen Westeuropas als ausgerottet galten, breiten sich heute wieder Wolfspopulationen aus und leben bevorzugt in den Wäldern. Nicht ausgeschlossen also, Canis lupus hier zu begegnen, auch wenn die scheuen Tiere den Menschen eher meiden.

Die überraschende Begegnung mit einem 350 Kilogramm schweren und über 2 Meter großen Europäischen Braunbären kann aber überaus gefährlich werden, wenn das Tier sich bedroht fühlt. Wobei die Chancen auf ein Zusammentreffen ungleich verteilt sind. In Deutschland gibt es sie nur noch in Zoos – in den rumänischen Karpaten dagegen leben noch weit über 7000 Bären. Gefahr besteht im Wald heutzutage eher durch herabfallende Äste, Zeckenbisse oder Unwetter. Ein Gewitter kündigt sich an, das Handyakku hat nur noch ein paar Prozente – und jetzt auch noch »kein Netz«. Höchste Zeit, den Heimweg anzutreten. Doch wo geht es hinaus?

In Dante Alighieris’ »Commedia« verirrt sich der Protagonist schon zu Beginn seiner – hier allerdings jenseitigen – Wanderung: »[…] als ich mich fand in einem dunklen Walde; denn abgeirrt war ich vom rechten Wege. Wohl fällt mir schwer, zu schildern diesen Wald, der wildverwachsen war und voller Grauen …«. Solches Grauen gibt es im bekanntesten Werk des großen florentinischen Dichters reichlich und sie sind nur ein Vorgeschmack auf die schlimmsten Höllenqualen. Eine hungrige Wölfin versperrt ihm den Weg, überall hängen die verdammten Körper der Selbstmörder, Blut fließt aus rissigen Bäumen. Doch je höher der Weg führt, desto mehr durchweht auch neue Lebensluft den dichten Wald, dessen Bäume Früchte tragen, die nicht von dieser Welt sind.


Das Unbestimmbare, das Geheimnisvolle undseine übernatürlichen Wirkmächte


Im 21. Jahrhundert machen zwar gut ausgebaute Wegenetze und Wander-Apps den Gang in den Wald deutlich komfortabler und ungefährlicher, aber dennoch bleibt er für uns ein mystischer Ort. Dazu tragen auch die vielen Geschichten bei, die von Generation zu Generation weitererzählt werden. Viele davon verbreiteten sich in der Zeit der Romantik, etwa die Märchen der Gebrüder Grimm, und sie prägen bis heute unser kollektives Gedächtnis. Die Grimms schöpften dabei aus einem großen Fundus von Sagen aus ganz Europa, die im Original noch weitaus grausamer und auch sexualisierter waren, als ihre spätere Fassung in der berühmten Sammlung »Grimms Märchen«. Der Wald ist auch hier alles andere als ein Paradies: Das Unbestimmbare, das Geheimnisvolle und seine übernatürlichen Wirkmächte machen ihn zu einem Angstraum.

In die Zeit der Romantik fiel aber auch der Beginn einer »Waldbegeisterung«. Der Wald wurde – wieder – zum Rückzugsort, zum Ort der Sammlung oder der inneren Einkehr. Schwärmerisch-melancholisch bedichtete einer den (Eichen-)Wald, der ihn praktisch schon im Namen trägt. In Joseph von Eichendorffs’ Gedicht »Die Klage« heißt es: »O könnt ich mich niederlegen – Weit in den tiefsten Wald – Zu Häupten den guten Degen – Der noch von den Vätern alt.« Friedrich Hölderlin nannte den Wald in seinem Gedicht »Die Eichbäume«, gar »ein Volk von Titanen«. Auf die Leinwand gelangte diese Begeisterung durch Maler wie Caspar David Friedrich und später Eduard Leonhardi. Fast durchgängig zieht sich dieses Sujet durch die Werke des ›Waldmalers‹ Iwan Iwanowitsch Schischkin, der, nach einigen Jahren in Deutschland und der Schweiz, die schier unendlichen Wälder seiner Heimat mit Ölfarben festhielt.

Waldleben als Weltflucht?

Dem Stadtleben einer sich rasant entwickelnden Industriegesellschaft wurde nun die »Waldeinsamkeit« entgegengesetzt – hier geschehe kein Leid, hier wohne kein Neid, so führt der Romantiker Ludwig Tieck 1797 den Begriff in seinem Kunstmärchen »Der blonde Eckbert« ein. Die Waldeinsamkeit fand, als nur schwer zu übersetzender Germanismus, auch Eingang in die englischsprachige Literatur, so in einem Poem Ralph Waldo Emersons’, das dieser mit dem deutschen Wort betitelte.

Emersons’ Freund Henry David Thoreau wiederum setzte es sogar in die Praxis um, in dem er sich in eine selbst gebaute Blockhütte im Wald zurückzog und darüber sein berühmtes Werk »Walden. Life in the Woods« schrieb. Manchen gilt der amerikanische Waldgänger sogar als Namensgeber des zivilen Ungehorsams. Ob er seinen zwei Jahre dauernden Teil-Rückzug in den Wald aus Liebe zur Natur, aus »Argwohn gegen die Städte« oder eher wegen seiner Unlust Steuern zu zahlen antrat, darüber ließe sich streiten. Thoreau ging jedenfalls regelmäßig in die Stadt, traf sich mit Bekannten und brachte seine Kleidung zur Wäsche mit.

Auch heute gibt es noch solche ›unzeitgemäßen‹ Menschen, die ihre ganz eigenen Gründe haben, einen gewissen Abstand zur Gesellschaft zu halten. »Hier im Wald fehlt es mir an nichts«, sagt einer, der sich gut mit dem Leben im Wald auskennt. Ein friedvolles, sonniges Gemüt scheint er zu haben, der ›Waldmensch‹ Friedmunt Sonnemann. Mit seinem langen Haar und dem wallenden Bart wirkt er ein wenig wie aus Grimms’ Märchen entsprungen. Doch für ihn hat der Wald nichts Bedrohliches, denn seit über drei Jahrzehnten lebt er auf seiner »Königsfarm« in einem Waldstück am Hunsrück – ohne Strom- und Wasseranschluss. Dafür nutzt er Quell- und Regenwasser, Solarenergie und baut Gemüse, Obst und Kräuter an. Was fehlt, wird getauscht oder hinzugekauft. Sonnemann lebt auch nicht allein wie sein amerikanischer Vorgänger. Immer wieder lässt er andere Waldbegeisterte aus aller Welt bei sich wohnen, die ihn unterstützen.

Wie schon bei Thoreau ist auch der moderne Waldgang kein totaler Bruch mit der Zivilisation. Warum also hat der Wald, für Naturburschen ebenso wie für überzeugte Großstadtmenschen, eine solche Anziehungskraft?

Henry David Thoreau, Fotografie von Benjamin D. Maxham, 1856
National Portrait Gallery Wikimedia

Namensgeber des zivilen Ungehorsams? Henry David Thoreau veröffentlichte 1854 »Walden. Life in the Woods«.


Ein Riesenorganismus, der ständig in Bewegung ist

Natürlich war der Wald schon lange vor dem Menschen da, die ersten Bäume entstanden bereits vor 300 Millionen Jahren. Zunächst Farn- und Schachtelhalmbäume, später Nadel- und schließlich die Laubbäume, die einst weite Teile des mittel- und südeuropäischen Urwalds ausmachten, bis sie durch Forstwirtschaft wieder großflächig mit Nadelbäumen ersetzt wurden. Ist schon das Alter einzelner Bäume beeindruckend, – neben den 1000-jährigen Eichen gibt es fast 10.000 Jahre alte »Methusalemfichten« – so erst recht die evolutionäre Entwicklung des ›Riesenorganismus‹ Wald. Selbst Eiszeiten und Aussterbewellen ganzer Baumarten haben ihn nicht daran gehindert, immer wieder zurückzukehren.

»Urwälder«, wie sie vor rund 6000 Jahren fast ganz Europa bedeckten, gibt es ohnehin kaum mehr. Außerdem verändert sich der Wald auch ohne den Menschen in natürlichen Prozessen. Wächst er immer dichter, ist die Konkurrenz zu groß – im Kampf um das knappe Sonnenlicht sterben dann die niedrigeren Pflanzen ab. Die größten ursprünglichsten Waldgebiete Europas, sogenannte »Primärwälder«, befinden sich noch in Finnland, im Karpatenbogen und am nördlichen Uralgebirge. Insgesamt 1,4 Millionen Hektar ›alter Wald‹ verteilen sich auf 34 Länder.

Für unzählige Lebewesen ist der Wald bis heute ein unverzichtbarer Schutzraum. Auch wenn sich unsere frühen Vorfahren irgendwann trauten, von den Bäumen zu steigen, um den aufrechten Gang zu proben und die Welt zu entdecken: Ganz getrennt haben wir uns von diesem Organismus nie. Die Worte »Abstammung«, »Stammbaum«, »Stammhalter« oder auch »Wurzeln haben « im Sinne von Herkunft, mögen davon eine bildhafte Vorstellung geben. Wie Äste, die in viele Richtungen, alle aber aus einem Stamm wachsen. Und schließlich sind wir von Bäumen auch in der modernen, durchindustrialisierten Gesellschaft abhängig.


Ein einziger Baum produziert so viel Sauerstoff, wie zehn Menschen zum Atmen brauchen.


Denn Bäume sind die »stillen Klimaschützer«. Sie filtern Schadstoffe aus der Luft und geben sie sauber wieder zurück. Ein einziger Baum produziert davon so viel, wie zehn Menschen zum Atmen brauchen. Sie speichern und reinigen Wasser, von dem sie besonders bei Dauerregen große Mengen aufnehmen und so vor Überschwemmungen schützen. Als Stadtwald haben sie eine positive Wirkung, weil sie bei Sommerhitze als natürliche ›Klimaanlage‹ die Temperaturunterschiede abmildern. »Hitzefrei unter Bäumen«, das ist gerade für die Bewohner dicht besiedelter Viertel im Sommer unverzichtbar. Doch viele Baumarten verkraften die hohen Temperaturen, Schädlinge und Erkrankungen nur schwer.

Darum werden schon seit einigen Jahren ›stresstolerante‹ Baumarten z. B. aus Süd- und Osteuropa, wie die Silberlinde oder die Ungarische Eiche, getestet. Aber auch wenn solche Arten sich durchsetzen mögen: zu kleine Baumgruben auf den zu knappen Flächen der Großstädte machen ihnen das Leben schwer. Zusätzlich werden Bäume, die den dringend benötigten Neubauten quasi im Weg stehen, Opfer der Kettensäge – denn im Zweifel geht Baurecht vor Baumschutz. Nicht nur der Mensch leidet unter Platzmangel. Kann aber der Wald uns dabei helfen, dem Stress zu entkommen oder sogar Krankheiten zu heilen?

Der Wald als heilende Kraft

In den 1970er-Jahren hielt sich ein japanischer Forstwissenschaftler für einige Jahre in Deutschland auf und gelangte hier zu seiner Erkenntnis, dass der Wald neben einer rein forstwirtschaftlichen auch eine therapeutische Bedeutung haben kann. Zurück in Japan, regte er beim zuständigen Ministerium die Nutzung der heimischen Wälder zu Freizeit- und Gesundheitszwecken an. Aufwendige Untersuchungen zur Waldgesundheit wurden beauftragt, pflanzliche Wirkstoffe erforscht und ihr Nutzen für den Menschen beschrieben – das japanische Shinrinyoku war geboren. Von dort gelangte der Begriff als »Waldbaden« ab den 2010er-Jahren nach Deutschland. Heute gibt es zahlreiche Bücher und Kursangebote zu dem Thema. War die wissenschaftliche Erkenntnis, dass der Wald dem Menschen und seiner Gesundheit guttut, in Europa unbekannt, musste sie erst als ›Trend‹ importiert werden?

Im Jahr 1912 erholte sich die an einer Lungenkrankheit leidende Katia Mann in einem Sanatorium, das unmittelbar am Wald lag und damit warb, »dem Getriebe des Ortes entrückt« zu sein. Als ihr Mann Thomas zu Besuch war, ließ er sich von dem in 1600 Meter Höhe gelegenen Waldhotel zu seinem Roman »Der Zauberberg« inspirieren. Tatsächlich wurden bereits Anfang des 20. Jahrhundert die ersten Heilstätten zur Behandlung auch von Lungenkrankheiten besonders in waldreichen Regionen eingerichtet. Von dem ›Getriebe‹ des schweizerischen Davos konnten Kranke aus ärmeren Schichten – damals wie heute – freilich nur träumen. Doch das Wissen um die Heilkraft des Waldes war schon länger bekannt.


Nach einem Waldspaziergang steigern die »Killerzellen« ihre Aktivität.


Bereits in den 1850er-Jahren empfahl der »Kräuterpfarrer« Sebastian Kneipp ausgedehnte Spaziergänge im Wald, bei denen man auch Atemübungen machen sollte. Seine als »Kneippkuren« bezeichneten Therapien werden bis heute angewendet. Als um 1900 die Tuberkulose in Europa wütete, waren die Ärzte Naturheilverfahren gegenüber zwar immer noch skeptisch, dennoch gab es erste Frischluft-Liegekuren und auch schon Naturheilvereine, die frühe Formen von ›Waldbadeanstalten‹ ausprobierten. In Berlin wurden an Rachitis erkrankte Kinder im nahen Grunewald in »Waldschulen« unterrichtet. Nicht zuletzt gibt es eine lange Tradition, sich unter Bäumen sportlich zu betätigen, von der revolutionären Turnbewegung bis zu den »Trimm-Dich-Pfaden«, die in Österreich auch »Forstmeilen« heißen.

Dass »Killerzellen« uns nicht bedrohen, sondern unser Immunsystem stärken und Krankheitserreger ›killen‹, ist bekannt. Nach einem Waldspaziergang steigern diese Zellen ihre Aktivität besonders, was Laborstudien auf die von Bäumen ausgehenden flüchtigen organischen Verbindungen, den Terpenen, zurückführen. Die liegen praktisch in der Waldluft – wir müssen sie nur noch einatmen. Doch ist es letztlich das Zusammenspiel zwischen der Schönheit des Waldes, seinen Gerüchen, der Stille und dem direkten, tiefenbewussten Kontakt zur Natur, die sich so positiv auf unser Wohlbefinden auswirkt. Der Wald braucht uns nicht, aber wir ihn. Umso wichtiger ist es, ihn zu schützen und nachhaltig zu bewirtschaften.

Green jungle tree with green leaves and sun light and plant detail nature in the forest look under tree - beautiful bottom view to the tree top
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Die gesunden Waldaerosole liegen hier praktisch in der Luft – wir müssen sie nur noch einatmen.


Der Weltenbaum brennt. Doch er grünt auch von Neuem.

Ein Baum von ›kosmischer‹ Größenordnung war in der nordischen Mythologie Yggdrasil, die »Weltenesche«. Deren immergrüne Zweige überwölbten der Überlieferung nach den Himmel, die alles umschließenden Wurzeln teilten sich in die Welten der Toten, der Riesen, der Götter und schließlich der Menschen. Die spielten hier eine eher untergeordnete Rolle – ganz im Gegensatz zum realen Ökosystem Wald, in das sie aktiv eingreifen. Doch auch im Mythos nagten und fraßen an den Wurzeln und Ästen Yggdrasils beständig Drachen und Fäulnis. Am Ende der Welt wurde die Esche von einem gewaltigen Feuer, einem Weltenbrand, verschlungen: »Alle Wesen müssen die Weltstatt räumen. […] Glutwirbel umwühlen den allnährenden Weltbaum, die heiße Lohe beleckt den Himmel«, heißt es in der Edda, einer Sammlung nordischer Dichtung.

Wenn man die Bilder von verheerenden Waldbränden aus aller Welt sieht, können einem solche drastischen Beschreibungen wie die aus der Edda in den Sinn kommen, wenn auch nicht dieser lyrischen Form. Sie haben fast immer eine Ursache: den Menschen. Brandstiftung und Brandrodung, nur in sehr seltenen Fällen Blitzeinschlag, lassen die »grüne Lunge« schwarz werden. Dazu schwächen Trockenheit und Dürre die Bäume – und aus einem Lagerfeuer macht der Sommerwind schnell einen Großbrand. Ätherische Öle wie die Terpene, die die Waldluft so gesund machen, sind leider gleichzeitig auch Brandbeschleuniger und besonders in Nadelbäumen enthalten. Als Monokulturen und in Reih und Glied gepflanzt sind sie ›brandgefährlich‹ und für den Klimawandel nur bedingt gewappnet.


Aus der Asche keimt ein neuer, grüner »Phönix«.


Um die Wälder dahingehend umzubauen wird auf gemischte Bestände mit vielen Laubbäumen gesetzt. Dennoch ist Waldbrand nicht gleich Waldbrand. Wie sich ein Wald nach so einem Feuersturm erholt, ist auch davon abhängig, wie schwer der Boden beschädigt ist. Wächst sobald kein Baum nach und haben nicht genügend Samenbäume überlebt, die für einen natürlichen Wiederaufwuchs entscheidend sind? Geeignet sind dann schnell wachsende, anspruchslose »Pionierbaumarten«, die sich auch auf abgebrannten Flächen gut ansiedeln. Sogar die Asche steckt noch voller Nährstoffe, sodass bald nach dem Brand wieder ein neuer, grüner »Phönix« keimen kann – und das ist dringender denn je. Aber nicht nur für das Ökosystem ist der Wald unverzichtbar, er sichert und schafft auch viele Arbeitsplätze.

Über 17 Millionen Menschen arbeiten in der europäischen Holz- und Forstwirtschaft, mit einer Bruttowertschöpfung von 1 Billion Euro – insgesamt sind das über 7 Prozent der gesamten europäischen Wirtschaftsleistung. Damit das auch so bleiben kann, sollen in den kommenden Jahren allein in der Europäischen Union mindestens 3 Milliarden Bäume angepflanzt werden. Ein Rennen auf Zeit, denn große Teile der Waldbestände gelten bereits als krank – und der weltweite Verbrauch von Holz liegt weit über dem, was nachhaltig entnommen werden sollte. Ob Klima, Freizeit oder Arbeit: Der Wert der »Waldeskraft« kann gar nicht hoch genug angesetzt werden.

Survival Camping in the Wild
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Auf Thoreaus’ Spuren begibt man sich am besten mit einem professionellen »Survivaltrainer«.


Zurück zu den Wurzeln

Ein Bett aus Laub und Moos, Wasser aus dem Bach und ein wärmendes Feuer – mehr gibt es nicht. Wer den Wald nicht nur ›waldbadend‹ genießen will, sondern eine Herausforderung sucht, muss auch dafür der Zivilisation nicht gleich den Rücken kehren. Auf Thoreaus’ Spuren begibt man sich am besten mit einem professionellen »Survivaltrainer«, denn auch die Waldeinsamkeit will gut organisiert sein. Gänzlich allein ist man im Wald ohnehin nie, man kann ihn ständig hören, riechen – und schmecken. Wer allerdings nur das essen will, was die Natur vor Ort gratis liefert, sollte vorsichtig sein, denn so manche lecker aussehende Frucht ist giftig. Die Tollkirsche, irreführenderweise auch »Bella Donna« genannt, kann zur ›ewigen Waldesruh‹ führen. Die leicht nussig schmeckende Brennnessel dagegen ist reich an Eiweiß und kann sogar roh gegessen werden – die Brennhärchen müssen vorher aber unbedingt – von unten nach oben – abgestrichen werden. Hartgesottene filtern ihr Wasser in den eigenen Socken vor und rösten Insekten über dem Feuer.

Natürlich gibt es auch für das »Life in the Woods« Regeln, manches davon ist in Gesetzesform gegossen, anderes allgemein anerkanntes Gewohnheitsrecht. In Schweden gibt es das Allemansrätt, das ›jedermann‹ erlaubt, für begrenzte Zeit im Wald zu übernachten. In Deutschland gibt es das umfangreiche Bundeswaldgesetz, in dem sogar Privatbesitz zum Erholungswald erklärt werden kann, »wenn es das Wohl der Allgemeinheit erfordert«. In allen Wäldern gilt das Selbstverständliche: Nichts stören und nichts zerstören. Ganz gleich, ob man mit Freunden eine Waldwanderung unternimmt oder einen geführten Kurs für Teilzeitaussteiger bucht: Es kann abenteuerlich sein, sich in einer zivilisierten Welt Fähigkeiten anzueignen, die für unsere Vorfahren überlebenswichtige Pflichten waren. Vielleicht werden sie es wieder.


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