Prag, Altstädter Ring. rh2010 – stock.adobe.com


Martin Kukal

Lassen Sie uns nicht um den heißen Brei herumreden: Tschechisch ist eine sehr schwierige Sprache. Darin sind sich Muttersprachler und ausländische Tschechischlernende einig.

Sie erwarten jetzt wahrscheinlich von mir, dass ich die obige Aussage ein wenig einschränke und sage, dass man ja eigentlich nicht so pauschalisieren könne, dass alles von der Perspektive abhänge, und so weiter und so fort.

Aber nein, das stimmt eben nicht. Das Tschechische ist tatsächlich eine sehr schwierige Sprache, sogar für Muttersprachler, ungeachtet unzähliger in Primar- und Sekundarschule mit Grammatik und Stilkunde verbrachter Stunden. Um das alles zu meistern, müssen sich Kinder erst viele Jahre im Lesen und Schreiben ihrer tschechischen Muttersprache üben.


Das Zeitalter der Aufklärung gab den Tschechischsprachigen mehr Möglichkeiten, dem Germanisierungsdruck zu widerstehen.


Wie ein Phönix aus der Asche

Einer der Gründe dafür ist die äußerst komplexe Stilistik der tschechischen Sprache. Ihr Vokabular ist größer als der Wortschatz anderer slawischer Sprachen, was daran liegt, dass es eine »wiedergeborene« Sprache ist.

Mit dem Dreißigjährigen Krieg in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verschwand die tschechische Oberschicht. Die tschechischsprachigen Adligen wurden hingerichtet, vertrieben und enteignet. Diejenigen, die übrigblieben, wurden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die literarische Produktion in tschechischer Sprache sank drastisch und die Sprache spielte in der Verwaltung keine Rolle mehr, auch nicht auf den untersten Verwaltungsebenen. Die Anzahl der Sprecher ging zurück, vor allem in den Städten.

150 Jahre später kehrte sich diese Tendenz jedoch um. Die politischen und kulturellen Entwicklungen im Zeitalter der Aufklärung brachten nicht nur einen größeren Germanisierungsdruck mit sich, sondern paradoxerweise auch mehr Möglichkeiten, diesem zu widerstehen.

Für die tschechischen Sprachwissenschaftler war es an der Zeit, dass ihre Sprache das Ansehen wiedererlangte, das sie einst genossen hatte. Sie waren vom Reichtum des Tschechischen überzeugt und davon, dass es nichts gäbe, was die Sprache nicht ausdrücken könnte, wenn ihr früherer Glanz erst einmal wiederhergestellt sei. Sie schufen zu diesem Zweck mithilfe der Wortbildungsmöglichkeiten des Tschechischen neue, vom tschechischen und slawischen Wortschatz inspirierte Wörter.

Dies war eine relativ leichte Aufgabe, da die Morphologie des Tschechischen eine Fülle von Affixen aufweist, die regelmäßiger sind als die anderer slawischer Sprachen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass eine Tschechischsprecherin oder ein Tschechischsprecher im Laufe einer Unterhaltung neue Wörter bildet, ohne deswegen gleich als besonders kreativer Mensch zu gelten.

Entlehnung zur Nuancierung

Dass das Tschechische viele Lehnwörter aufweist, unterscheidet es nicht von anderen Sprachen. Allerdings bestehen im Tschechischen oft Lehnwörter und ihre nicht entlehnten Synonyme Seite an Seite. Die Lehnwörter erwerben dabei oft eine Bedeutung, die sich von der des nicht entlehnten Gegenstücks leicht unterscheidet, oder gelangen in ein anderes Register.

So bezeichnet beispielsweise das Wort výroba die Produktion einer Sache, jedoch niemals die Herstellung tierischer oder pflanzlicher Produkte – in diesem Fall wird das Fremdwort produkce, dessen Bedeutungsumfang weiter ist, verwendet.

Das tschechische Wort skličující (»bedrückend«, »deprimierend«) wird als zu stark empfunden und daher selten verwendet, während das dem Englischen entlehnte depresivní gang und gäbe ist. Da es von einem Substantiv abgeleitet ist, ist es allgemeiner – das, worüber man spricht, wird allgemein für alle als bedrückend empfunden. Das schließt natürlich die Sprecherin oder den Sprecher mit ein, aber die Bedeutung ist weniger stark.

Auch das aus dem Französischen entlehnte deprimující wird häufig verwendet. Da es von einem Verb abgeleitet ist, liegt das Augenmerk auf dem betreffenden Zustand bzw. der betreffenden Handlung, was impliziert, dass der Sprecher stärker betroffen ist.


Standardtschechisch spricht man eher in Südostmähren als in Prag, dem Zentrum Tschechiens.


Wer spricht eigentlich Standardtschechisch?

Ein weiterer Grund für die Komplexität der tschechischen Stilistik sind die vielen verschiedenen Register. Die Standardsprache hat nach wie vor eine starke Stellung in den Medien und der staatlichen Verwaltung inne, unterscheidet sich aber deutlich von der Umgangssprache. Die Existenz regionaler Varietäten macht diese schwierige Situation noch komplizierter.

Obwohl Prag das natürliche Zentrum Tschechiens ist, würde das heutige Standardtschechisch der Sprache der Prager nur dann ähneln, wenn man eine Zeitreise mehrere Jahrhunderte zurück in die Vergangenheit machen würde. Die Sprachvarietät, die man heute in Prag (und mehr oder weniger im ganzen übrigen Böhmen, wo ungefähr sechs der insgesamt 10,5  Millionen Tschechischsprechenden leben) hört, wird für gewöhnlich als obecná čeština (Gemeintschechisch) bezeichnet. Es unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom Standardtschechischen, vor allem in Phonetik und Morphologie.

In Mähren und Tschechisch-Schlesien gibt es keine solche Einheit der Dialekte. Die im westlichen Teil dieses Gebiets gesprochene Varietät zeichnet sich durch phonetische Veränderungen von der Art aus, wie man sie auch in Böhmen hört – allerdings in noch stärkerer Ausprägung. In den östlichen Regionen trifft man auf zwei Übergangsdialekte, die die phonetischen Neuerungen des Böhmischen nicht mitgemacht haben und im Großen und Ganzen näher mit der Standardsprache verwandt sind.

Wenn wir uns auf einen Ort festlegen müssten, wo in der heutigen Tschechischen Republik die am ehesten dem Standardtschechischen ähnelnde umgangssprachliche Varietät gesprochen wird, müssten wir die Stadt Kunovice in Südostmähren wählen.

Eine folgenschwere sprachliche Entscheidung

Die Zweiteilung zwischen Standardtschechisch und Gemeintschechisch ist heute in tschechischen Linguistenkreisen ein heißes Eisen. Es scheint, dass immer mehr Sprachwissenschaftler dafür plädieren, das jetzige Standardtschechisch aufzugeben und das Gemeintschechische zur neuen Standardsprache zu erheben.

Aber dies wäre alles andere als einfach. Zwar haben die Böhmen zunehmend größere Schwierigkeiten, sich korrekt in der Standardsprache auszudrücken, aber ihre eigene Sprachvarietät weist trotzdem viele Elemente dieser Standardsprache auf. Diese Mischsprache verfügt über ein hochkomplexes Spektrum von Registern. Tschechen, die die Sprache sehr gut beherrschen, können diese Komplexität zu ihrem Vorteil nutzen und sich mit viel Finesse und äußerst nuanciert ausdrücken.

Wir stehen also vor einer schweren Wahl. Wird die Komplexität des Standardtschechischen irgendwann zu groß werden und die Tschechen dazu bringen, es aufzugeben? Oder würde solch eine Vorgehensweise sich als noch komplexer als die Sprache selbst erweisen?

Wir müssen es abwarten.


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Dieser redaktionell bearbeitete Artikel erschien zuerst beim Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union unter CC BY Lizenz.

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