Ein Gesicht taucht auf hinter einer Wand aus Nikotinqualm: Zwei glasige graue Augen sind auf den Zigarettenstummel gerichtet, der umständlich und stilvoll zugleich zwischen Ring- und Mittelfinger gehalten wird. Mit seinen Romanen und in Interviews polarisiert Michel Houellebecq. Das bringt ihm nicht nur Literaturpreise ein, sondern auch Gerichtsprozesse und sogar Morddrohungen. In seinen wenig bekannten Gedichten dagegen hört man die leiseren Töne: Selbstverzweifelung, Einsamkeit, unaufhaltsamer Verfall – lapidar und im beinahe dokumentarischen Stil verfasst. Das Wort hat der Abgeordnete Houellebecq.
»LE LOBE DE MON OREILLE DROITE est gonflé de pus et de sang. Assis devant un écureuil en plastique rouge symbolisant l’action humanitaire en faveur de aveugles, je pense au pourrissement prochain de mon corps. Encore une souffrance que je connais mal et qui me reste à découvrir, pratiquement dans son intégralité.Je pense également et symétriquement, quoique de manière plus imprécise, au pourrissement et au déclin de l’Europe. Attaqué par la maladie, le corps ne croit plus à aucune possibilité d’apaisement. Mains féminines, devenues inutiles. Toujours désirées, cependant.« »DIE MUSCHEL MEINES RECHTEN OHRES ist geschwollen von Eiter und Blut. Ich sitze vor einem roten Plastikeichhorn, dem Symbol der humanitären Aktion zugunsten der Blinden, ich denke an das bevorstehende Verfaulen meines Körpers. Noch ein Leiden, das ich nicht gut kenne und das mir zu entdecken bleibt, so gut wie in seinem gesamten Verlauf.Ich denke ebenfalls und symmetrisch dazu, wenn auch weniger präzise, an das Verfaulen und den Niedergang Europas. Von der Krankheit befallen, glaubt der Körper an keine mögliche Linderung mehr. Weibliche Hände, nutzlos geworden. Stets begehrt indes.«
»Die Muschel meines rechten Ohres«, aus dem Gedichtband »Der Sinn des Kampfes« (Flammarion/DuMont)
Ein Abgesang auf einen alternden Kontinent, auf einen dahinsiechenden ›Kultur-Körper‹? In Houellebecqs Poesie schimmert die Hoffnung jedenfalls nur kurz auf, wie die Glut beim Ziehen an seiner Zigarette. Jahre bevor er mit seinen Romanen zu Weltruhm gelangt, schreibt er neben einem ungeliebten Job Gedichte, die von der Sinnsuche im trostlosen Alltag, vom Verlorensein, aber auch vom ewigen Liebeshunger handeln. Noch als er längst im Rampenlicht der Medien steht, legt er diesen Ausdruck nicht ab; er ist überzeugt: »Bis zu meinem Tod bleibe ich ein vernachlässigtes Kleinkind, das, hungrig nach Zärtlichkeit, vor Angst und Kälte schreit.« Der Stil des »Déprimisme« scheint sich in seine Persona förmlich eingebrannt zu haben.
Geboren wird er auf der im Indischen Ozean gelegenen, zum französischen Übersee-Département gehörenden Insel La Réunion, vermutlich 1956. Die Eltern überlassen ihn früh der Großmutter, deren altnormannischen Nachnamen Houellebecq – »tiefer Bach« – er zu Beginn seiner künstlerischen Karriere annimmt. Zunächst schließt er ein Studium der Agrarwissenschaften ab, beginnt ein Filmstudium und arbeitet dann einige Jahre als Informatiker. Er knüpft zaghaft Kontakte in die Pariser Literatenszene und veröffentlicht Ende der 1980er-Jahre seine ersten Gedichte, die sein Schreiben und damit sein Romanwerk erst begründen sollen.
In den Romanen bewegen sich depressive Einzelgänger neben sexbesessenen, beziehungsunfähigen Swingern und kannibalistische »Wilde« neben hinter Elektrozäunen geschützten »Neomenschen«. Die Schauplätze sind mal ein Frankreich am Rande eines Bürgerkrieges, mal eine postapokalyptische Welt, in denen der neue Mensch nur noch mittels gentechnischer Verfahren ›kopiert‹ wird. Meistens mit im Spiel: große Packungen Antidepressiva. Doch die düstere Stimmung, die sich dort auf hunderten Seiten ausbreiten kann, verdichtet sich in Houellebecqs Poesie auf wenige Zeilen:
»IL EST VRAI que ce monde où nous respirons malN’inspire plus en nous qu’un dégoût manifeste,Une envie de s’enfuir sans demander son reste,Et nous ne lisons plus les titres du journal. Nous voulons retourner dans l’ancienne demeureOù nos pères ont vécu sons l’aile d’un archange,Nous voulons retrouver cette morale étrangeQui sanctifiait la vie jusqu’à la dernière heure. Nous volons quelque chose comme une fidélité,Comme un enlacement de douces dépendances,Quelque chose qui dépasse et contienne l’existence;Nous ne pouvons plus vivre loin de l’éternité.« »ES STIMMT, diese Welt, in der wir kaum noch Luft bekommen,Flößt uns nur noch deutlichen Ekel ein,Den Impuls zu fliehen, ohne uns auszahlen zu lassen,Und die Überschriften der Zeitung lesen wir nicht mehr. Wir möchten in die alte Heimstatt zurückWo unsere Vorväter lebten, vom Flügel eines Erzengels beschützt,Wir möchten jene eigentümliche Moral zurückerlangenDie das Leben bis zur letzten Stunde heilig werden ließ. Wir möchten etwas wie eine Art Treue,Wie ein Geflecht aus süßen Abhängigkeiten,Etwas, das über das Dasein hinausgeht und es birgt;Wir können nicht mehr leben fernab der Ewigkeit.«
»Es stimmt«, aus dem Gedichtband »Suche nach Glück« (Flammarion/Rowohlt)
Wohin, angesichts dieses Ekels, noch fliehen, wenn eine »ancienne demeure« nicht mehr existiert? Seine Figuren lässt Houellebecq scheitern, in der Psychatrie landen oder sich suizidieren. Im echten Leben ist der Autor ein scharfer Gegner der Sterbehilfe, bedauert die Abkehr von traditionellen Werten und den Identitätsverlust der Franzosen und Europas. Doch könne der Konservatismus, so schreibt er, »eine Quelle des Fortschritts« sein. Er vergleicht ihn mit einer mühsam erarbeiteten wissenschaftlichen Theorie, die nur aufgegeben werden solle, wenn ›die Fakten‹ dazu zwängen. Konservativ sein als sicherer Motor einer »perfekten Maschine«, die an die nächste Generation weitergegeben werden kann, unter Vermeidung von Verschleiß, oder – auf den Menschen bezogen – durch Verringerung des Leidens.
Eine Maschine für die Ewigkeit, eine »Unendlichkeitsmaschine« der Kulturen, deren Räder sich zwar immer behäbiger, aber dafür zuverlässig drehen? Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen ist Houellebecq auch einer der bisher wenigen Träger des Oswald Spengler Preises. Doch statt vom »Untergang des Abendlandes«, den der Philosoph und Namensgeber in seinem Hauptwerk eher als langsames, unaufhaltsames Verblühen einer Kultur verstand, spricht Houellebecq lieber vom »Selbstmord Europas«. Dessen Ursachen lägen vor allem in der niedrigen Geburtenrate der Europäer, mitbedingt durch den Hedonismus der Moderne, – den er gleichwohl selbst lebt – und nicht zuletzt im Verlust des Glaubens.
»Disparue la croyanceQui permet d’édifierD’être et de sanctifier,Nous habitons l’absence. Puis la vue disparaîtDes êtres le plus proches.« »Verschwunden ist der Glaube,Der zu erbauen erlaubtZu sein und zu heiligenWir bewohnen die Leere. Dann verschwindet der Anblickder nächsten Wesen.«
aus »Die graue Fläche« des Gedichtbandes »Gestalt des letzten Ufers« (Flammarion/DuMont)
»Gestalt des letzten Ufers«, lautet der Titel des Gedichtbandes, in dem dieses kurze Gedicht erschien. Treibt Europa inzwischen längst auf dem offenen Meer, ohne Land in Sicht, ja nicht einmal mit einem klaren Ziel vor Augen? Der Geschichtsphilosoph Spengler stellte die Zivilisation als den Endpunkt, den Tod jeder Kultur dar – auch wenn dieser sich über Jahrhunderte hinziehen könne. Etwas mehr Zuversicht äußert Houellebecq immer wieder in Interviews oder Essays: Ein erneuerter Glaube könne wenigstens eine »brüchige Zivilisation wieder instand setzen«, so der Schriftsteller, doch sei der Mensch vor allem ein »Wesen des Fleisches und des Gefühls«. Dieses Wesen ist denn auch in seinen Gedichten allgegenwärtig – und manchmal schimmert sie auch dort kurz auf, die Glut der alten und jungen Kulturkörper.
»Mon ancienne obsession et ma ferveur nouvelle,Vous frémissez en moi pour un nouveau désirParadoxal, léger comme un lointain sourireEt cependant profond comme l’ombre essentielle. (L’espace centre les peauxQuand il peut se réduireOuvre un monde aussi beauQu’un grand éclat de rire.)« Meine alte Obsession und meine neue Glut,Ihr bebt in mir für ein neues Begehren,Paradox, leicht wie ein fernes LächelnUnd dabei doch tiefgründig, dem essentiellen Schatten gleich. (Der Abstand zwischen Haut und Haut,Wenn er sich verringern kann,Öffnet eine Welt, so schönWie ein lautes, herzliches Lachen.)«
aus »Die graue Fläche« des Gedichtbandes »Gestalt des letzten Ufers« (Flammarion/DuMont)
Die Asche ist bereits zentimeterlang und droht jeden Moment herabzufallen, als der Dichter sie abschnippt und den Rauch ausatmet – und die Wand vor Michel Houellebecq steht wieder.