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Andreas Jürgens

Die Besteigung hoher Berge zählt zu den widersprüchlichsten Sehnsüchten des Menschen. Dort, wo ehemals Pioniere ihr Leben für den kurzen Ausblick riskierten, fahren heute oft Seilbahnen hinauf. Sind Götter und Dämonen endgültig vertrieben? Über die Anziehungskraft der Gipfel auf Könige und Kraxler.

Mit letzter Kraft ziehen sich zwei Menschen an einem Felsvorsprung hoch. Endlich sind sie auf die schmale Stelle gelangt, die die kaum begehbare Gipfelspitze ausmacht. Erschöpft und berauscht zugleich schweifen ihre Blicke über die mächtige Gebirgskette. Sie sind die Ersten hier oben, niemals zuvor hat jemand diesen Ort betreten. Auf der schneebedeckten Kuppe fegt ihnen ein eisiger Wind über die staunenden Gesichter. Die Kälte, die Anstrengungen und die Angst sind vergessen angesichts des grandiosen Panoramas. Von einem bisher nicht gekannten Gefühl überwältigt, strecken sie ihre Arme empor und stoßen Freudenrufe aus. Sie sind allein – um sie herum endlose Berglandschaften. Dort unten im Tal, in dem sie leben, hört man sie nicht. Es sieht vom Gipfel aus wie ein kleiner grüner Teppich inmitten grauweißer Gesteinsmassen. Vielleicht wird man ihnen im Tal nicht glauben, dass sie hier oben waren. Vielleicht werden sie nie mehr unten ankommen.

Im Schutz der Berge

Wer waren diese ›ersten Bergsteiger‹ und was glaubten sie dort oben zu finden? Welches Gefühl trieb sie an, dass sie die Warnungen und Gefahren ignorierten, die eigene Angst und vielleicht den Glauben an Geister, die in den Bergen leben sollten, überwanden und den Aufstieg wagten? Die frühen Bewohner der Bergregionen stiegen wohl nur selten auf die entlegenen Gipfel. Auch Höhlen im Gebirge boten zwar einen gewissen Schutz vor Witterung, wilden Tieren und verfeindeten Gruppen. Aber sie mussten auch für alle Mitglieder der Sippe relativ gefahrlos erreichbar sein und ein halbwegs funktionierendes Alltagsleben ermöglichen. Gefragt war vor allem der praktische Mut, der die Gefahren abwehrte und das Überleben sicherte, nicht solcher, der sie ohne erkennbaren Nutzen noch herausforderte. Aus dieser Perspektive scheint das riskante Besteigen von Gipfeln also widersprüchlich.

Schon unsere prähistorischen Vorfahren sind auf Berge gestiegen, um an hochwertiges Gestein für ihre Werkzeuge zu kommen. Menschen haben sich immer ihrer Umwelt angepasst, war sie auch noch so unwirtlich. Der Ötzi war schon vor 5300 Jahren in den Ötztaler Alpen Südtirols heimisch, um zu jagen oder Handel zu treiben. Bis ihn der Pfeil eines Konkurrenten niederstreckte und er für Jahrtausende als Gletschermumie dort oben blieb. Später nutzten Bauern sehr hoch gelegene Weiden für ihre Tiere. Ab und an verirrte sich eines davon und man stieg dem verlorenen Schaf nach. Meistens standen wohl Schutzbedürfnis und wirtschaftlicher Nutzen im Vordergrund, wenn ein Berg bestiegen wurde. Was sollte man sonst dort oben zu schaffen haben?

Der Dichter Petrarca berichtete von einem alten Hirten, den er beim Aufstieg zum Mont Ventoux traf. Dieser hatte schon viele Jahre vor ihm den Berg bestiegen und riet davon ab, es ihm nachzutun – er habe nichts als zerrissene Kleidung zurückgebracht. Noch heute schütteln manche Bergbauern über die risikofreudigen Bergsteiger in ihrer Gegend den Kopf, sie selbst hätten dafür überhaupt keine Zeit. Indessen verdient so mancher unter ihnen mehr mit der Bewirtung und Unterbringung der ›Kraxler‹ als mit herkömmlicher Almwirtschaft. Der Tourismus ist heute einer der Grundpfeiler für den Wohlstand in den alpinen Regionen.

Die Berge dienten in der Menschheitsgeschichte häufig als Rückzugsort zum Schutz vor Feinden. Ebenso waren oder sind sie aber auch Ausgangspunkt für Angriffe auf solche. Der aus dem heutigen Tunesien stammende Hannibal trieb seine Männer (und dazu noch Elefanten) um 200 v. Chr. einen langen Umweg nehmend über die Alpen, um die Römer vom Norden her zu überfallen. Pelayo, der Gründer des Königreichs Asturien, sammelte im Jahr 722 seine Truppen im Kantabrischen Gebirge, in den Picos de Europa, um von dort aus die Rückeroberung der iberischen Halbinsel von den Muslimen einzuleiten. Im Ersten Weltkrieg wurden auch die Alpen zwischen Italien und Österreich-Ungarn wieder zum Kriegsschauplatz. Italien wechselte auf die Seite der Alliierten – und bekam dafür Südtirol. Die Schweizer bauten in den 1930er-Jahren Festungsanlagen in die Alpen, die aus dem Fels gesprengten Réduits – für den Verteidigungsfall, der nicht eintrat.

Gigo Velasco Tablado – stock.adobe.com Mountaineer hiking in the San Isidro pass between Asturias and In Pelayo's footsteps. Leon. In the background the Picos de Europa in the Cantabrian Mountains.
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Auf Pelayos Spuren zu den Picos de Europa, Kantabrisches Gebirge, Nordspanien.


Berge versetzen

Der Glaube versetze Berge, behauptet die Bibel, und auch die Berge selbst waren und sind für viele Menschen ein Ort der geistigen Einkehr. Heilige Berge existieren in vielen Kulturen und gelten als Kraftorte, die dem Göttlichen nahe sind. Sie können gewissermaßen als Verbindung zwischen Himmel und Erde gesehen werden. Dabei gilt der höchste Berg meist als der heiligste, durch seine Nähe zum Himmel. Im antiken Griechenland galten die Berge als Sitz der Götter. Der Olymp mit seinem 2918 Meter hohen Gipfel war dort Heimstatt der Olympier, mit Zeus als Herrscher über Donner und Blitz. Kein Ort für Sterbliche also. 250 km weiter erhebt sich der Berg Athos, gelegen in der gleichnamigen Mönchsrepublik. Er ist der Gottesmutter Maria gewidmet und sie ist auch die einzige Frau der Halbinsel – anderen Damen ist der Zutritt untersagt. Auch in vielen anderen Teilen der Welt sind heilige Berge ›verbotene Berge‹. Der Gipfel des Kailash, heiliger Berg Tibets, ist wegen seiner religiösen Bedeutung ebenfalls Verbotszone – für alle Geschlechter.

In der Abgeschiedenheit des Berges lebt der »Einsiedler«, entrückt von der Welt. Nur selten findet er dort eine so komfortabel-sinnliche Umgebung wie im Venusberg aus der Sage vom Tannhäuser. Auch ist Bergsteigen viel mehr als nur sportliche Betätigung. Der Berg ist kein Trainingsgerät. Das Bergsteigen ist immer auch ein Akt der Auseinandersetzung mit der Natur. Sie zieht die Grenze zwischen Mensch und göttlichem Wesen, denn mit dem Eintritt in die Zone des kargen, schneebedeckten Gebirges, seinen steil abfallenden Felswänden deren Spitzen in die Wolken stoßen, weist sie den Menschen in seine Schranken. Mit dem Anwachsen der Städte und der Technisierung der Gesellschaft wuchs aber auch die Sehnsucht und die Neugier nach der scheinbaren Undurchdringbarkeit der wilden Natur. Diese Schranken wollen durchbrochen oder doch mindestens etwas angehoben werden.


Dem Schöpfer der weltalten Majestät zum Dank für tausendfache gute Heimkehr.

Inschrift am Gipfelkreuz des Großvenedigers, 3657 m


Warum steigen wir auf Berge? Rope team in the mountains
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Einsame Helden sind selten. Seilschaft auf dem Weg zum Gipfel des Großvenedigers, Österreich.


Herrscher, Poeten und Abenteurer

Schon aus der Antike wird von Königen berichtet, die sich nicht nur zu den Gipfeln der Macht, sondern auch zu solchen der Natur hingezogen fühlten. Der gegen Rom Krieg führende Makedonier Philipp V. soll im Jahr 181 v. Chr. die Gipfel des Balkangebirges erstiegen haben. Wohl aus strategischen Gründen, er meinte von dort aus zwei ›Meere‹ gleichzeitig sehen zu können, das Adriatische und das Schwarze Meer. Der römische Kaiser Hadrian dagegen soll die Besteigung des Ätnas 125 n. Chr. unternommen haben, um in den Vulkan zu schauen und den Sonnenuntergang zu beobachten. Kann man sich ein ästhetischeres Motiv für einen Aufstieg denken? Schöner würden viele der heutigen Bergsteiger sich auch nicht erklären.

Im Jahr 1336 beschrieb der oben erwähnte Dichter Petrarca seine Wanderung auf den Mont Ventoux, den windigen Berg. Er schilderte sein Verlangen als »allein von dem Drang beseelt, diesen außergewöhnlichen hohen Ort zu sehen.« Auch dieser Gedanke dürfte vielen modernen Bergsteigern vertraut sein. Nach heutigen Maßstäben ist der Berg mit 1920 Metern zwar weder besonders hoch, ja nicht einmal der Höchste in den Provenzalischen Alpen, noch ist er schwer zu besteigen. Aber der Ausblick ist atemberaubend schön und der Dichter konnte nicht wie heutzutage mit dem Motorrad hinauffahren und hatte auch kein Smartphone für ein Berg-Selfie dabei. Auch das Trüffel-Omelette in der Brasserie nahe des Gipfels blieb ihm verwehrt. Inspiration dürfte er sich dennoch dort oben geholt haben, Petrarca prägte die europäische Liebeslyrik entscheidend mit.

Immerhin 3538 Meter hoch ist der Gipfel des Rocciamelone, der höchste Wallfahrtsberg Europas. Dort hinauf stieg im Jahr 1358 Bonifacio Rotario d’Asti, in Ausführung eines Gelübdes als Dank für seine Befreiung aus der türkischen Sklaverei. Ein schon biblisches Motiv, um auf einen Berg zu klettern und jedes Jahr eifern ihm zahlreiche Bergfreunde nach und steigen den alten Pilgerweg zum Gipfel hinauf. Ob aus Ehrgeiz oder spirituellem Bedürfnis, der Berg zwischen Italien und Frankreich zieht Pilger und Bergsportler gleichermaßen an. Auf dem Gipfel wartet in der dünnen Luft der Grajischen Alpen eine Marienstatue, La Madonna di Rocciamelone, auf schwindelfreie Sünder.

Vom ewigen Schnee bedeckt präsentiert sich der weiter nördlich liegende Montblanc, der weiße Berg, mit seinen imposanten 4807 Metern. Er ist der höchste Berg der Alpen und wurde das erste Mal von zwei Einheimischen, dem Jäger und Kristallsucher Jacques Balmat und dem Arzt Michel-Gabriel Paccard, bestiegen. Am 8. August 1786 stiegen die beiden gemeinsam auf den Gipfel. 26 Jahre zuvor hatte der Geologe und Aristokrat Horace-Bénédict de Saussure eine hohe Prämie ausgesetzt für denjenigen, dem es gelänge, einen Weg zum Gipfel zu finden. Als de Saussure sich im folgenden Jahr von Balmat zum Gipfel führen ließ, hatte er bereits zahlreiche Begleiter mit dabei. Lebensmittel, Hochprozentiges und allerlei Gerätschaften des Geologen mussten mit auf den Berg. Der Beruf des Bergführers entstand. Für viele, die im Gebirge beheimatet sind, wurde das Bergsteigen bald zu einem wichtigen Zusatzeinkommen. Aber ob als nebenberuflicher Bergführer oder als gesponsorter Extrembergsteiger mit Buchverträgen und Vortragsreisen: Ohne Leidenschaft für den Berg steigt niemand auf seinen Gipfel.


Der Gipfel. Das gänzlich Andere, der Gegensatz zur zivilisierten, geordneten Welt.


Warum steigen wir auf Berge? Alpinist man with ice tools axe climbing a lar
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In den Bergen braucht es Fähigkeiten wie Ausdauer und Geschicklichkeit


Das Gebirge als Erfahrungsraum

Der höchste Berg Europas, der Elbrus, liegt an der Grenze des Kontinents im großen Kaukasus. Er überragt den Montblanc in den Alpen um gut 800 Meter. Allerdings hat der Elbrus einen Zwillingsgipfel, weshalb seine Erstbesteigung paradoxerweise gleich zweimal stattfand. Den 5621 Meter hohen Ostgipfel bestieg 1829 ein russischer Expeditionstrupp mit dem Hirten Kilar Chatschirow. Auf den Westgipfel mit 5642 Metern stiegen 1874 Engländer um Florence Crawford Grove, zusammen mit dem Schweizer Bergführer Peter Knubel. Im Zweiten Weltkrieg war der Elbrus symbolhafter Schauplatz der Inanspruchnahme zwischen Ost und West, wurde besetzt und wieder zurückerobert. Auch im 21. Jahrhundert ist der Kaukasus eine konfliktreiche Region. Der Elbrus, ein vergletscherter Vulkan, soll sich neuerdings wieder erwärmt haben. Wird er wieder ausbrechen? Die Einheimischen sagen jedenfalls über sich, die Gastfreundschaft liege ihnen im Blut.

In Europa, wo die Industrialisierung der Gesellschaft ab Ende des 18. Jahrhunderts am schnellsten voranschritt, wurde das Bergsteigen zu einer Form der konsequenten Naturaneignung und gelangte bald von den Alpen über die Anden in Südamerika, wo es den Begriff des Andinismo prägte, bis auf die Gipfel des Himalaya, dem höchsten Gebirge der Welt mit seinen sage und schreibe vierzehn Achttausendern. Die Bezwingung der Berge als ein letztes unbekanntes, unerschlossenes Terrain – nach den Meeren, den Urwäldern, den Wüsten. Der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler sah im Ersteigen kaum zugänglicher Berggipfel ein »Ursymbol der faustischen Seele«, als Gebilde des Willens, der Kraft und der Tat. Doch auch abseits von philosophischen wie sportlichen Extremen: Das Bergsteigen verspricht ein Erleben der Natur, das der Alltag in der Stadt nicht bieten kann. Auf dem Gipfel findet sich das gänzlich Andere, der Gegensatz zur zivilisierten, geordneten Welt.

Warum also steigen wir auf Berge? Man kann das Gebirge auch als einen Erfahrungsraum betrachten, in dem man angewiesen ist auf Fähigkeiten wie Ausdauer und Geschicklichkeit, aber auch auf die Zuverlässigkeit der Seilschaft, die dort existenziell ist. In der modernen Gesellschaft ist der Begriff Seilschaft eher negativ konnotiert. In den Bergen wird er aber zum Inbegriff einer ›Schicksalsgemeinschaft‹. Einsame Helden sind selten. Die Sehnsucht nach exotischen Reisezielen auch als Flucht aus dem grauen Alltag bleibt, doch verlieren diese ihren Reiz, je komfortabler sie zu erreichen sind. Heutzutage bereisen immer mehr Menschen andere Kontinente, angezogen von der – kulturellen – Ferne, während sich in den Gebirgen mit der Entdeckung der Höhe ganz andere Räume erschließen lassen. Die Gründe für diese Leidenschaft sind so zahlreich wie die Gipfel und sie kann zur Sucht werden. Aber die Herausforderung liegt oft nur eine Zugfahrt entfernt.


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