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Andreas Jürgens

Es ist einer der ältesten Kulturräume, Sehnsuchtsort für Urlauber und Schicksalsort für Schiffbrüchige. Ein Viertel des Welthandels wird hier abgewickelt, aber zunehmend auch Konflikte ausgetragen. Das alles auf einer Fläche von 2,5 Millionen km², die sich 20 Staaten von 3 Kontinenten teilen. Welche Rolle spielte Europa in der Vergangenheit und welchen Einfluss wird es zukünftig noch im Mittelmeerraum haben?

Teil 1: Maritime Supermächte

Das Meer als Bühne für Mythen

An der levantinischen Küste steht eine junge Frau, die Fersen von schäumenden Wellen umspült. Sie kommt oft zum Schwimmen hierher, denn der Palast ihres Vaters, Herrscher eines Seefahrervolkes, liegt direkt am Meer. Jetzt, zum Abend hin, ist die Hitze auch außerhalb des Wassers erträglich. Als sie in Richtung der untergehenden Sonne schaut, entdeckt sie einen Stier, der sich ihr langsam nähert. Ungewöhnlich sanft ist der, mit blauschimmernden Augen und hellem Fell. Er legt sich ihr sogar zu Füßen und scheint sie aufzufordern, sich auf seinen Rücken zu setzen. Aber kaum ist das geschehen, springt der vermeintlich Gezähmte mit ihr in die Fluten und schwimmt auf das offene Meer hinaus.

Dieser tierische Entführer war kein gewöhnlicher Stier, sondern der verwandelte, ewig lüsterne Gott Zeus, der die Königstochter Europa gen Westen auf seine Insel Kreta verschleppte. Dort schenkte sie dem Olympier drei Söhne – und unserem Kontinent den Namen. Eine folgenreiche göttliche Romanze, denn sie begründete nicht nur einen Mythos, sondern legte auch ein wichtiges Fundament für die Zukunft: Auf Kreta entstand die erste europäische Hochkultur, benannt nach dem ersten Sohn der Europa, dem mythischen König Minos.

Die alten griechischen Epen machten das Mittelmeer zur großen Bühne für Kriege und Abenteuer. Schon Homer bedichtete in seiner »Odyssee« eine unfreiwillig lange Seereise: Nach dem Sieg über Troja bricht der Held zur Heimreise auf, die ihm allerdings zur Irrfahrt gerät: Jahrelang durchkreuzt er das Meer, kämpft gegen die Zyklopen, widersteht dem Gesang der Sirenen, überlebt die zahlreichen Angriffe seiner Feinde und wird schließlich von einer Nymphe gefangen, die ihn nur widerwillig auf Geheiß Zeus’ wieder freilässt. Doch der Meeresgott Poseidon straft ihn mit heftigen Stürmen, die seine Ankunft hinauszögern. Von der Ägäis verschlägt es ihn an die Küste Nordafrikas, er umsegelt Sizilien und kommt immer wieder vom Kurs ab, bis er endlich nach Ithaka zurückkehren kann, – wo seine treue Frau Penelope schon seit 20 Jahren auf ihn wartet.

So weit, so sagenhaft.


Griechische Kultur verbreitete sich vor allem in den Küstengebieten rund um das Mittelmeer.


Aufbruch zu neuen Ufern

Homers Werk entstand in einer Zeit, in der die Griechen bereits viele Städte auch außerhalb der Ägäis gegründet hatten. Schon ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. siedelten sie im Osten an den Küsten des Schwarzen Meeres, Kleinasiens und Ägyptens, im Westen gab es griechische Kolonien von der Adria über Sizilien bis nach Iberien. Die süditalienische Hafenstadt Siracusa trägt bis heute den Namen der einstmals mächtigen griechischen Polis, in der der Mathematiker und Ingenieur Archimedes lebte und wirkte. Das antike Genie konstruierte auch das größte Schiff seiner Zeit, das wegen seiner damals gigantischen Ausmaße nur einen einzigen weiteren Hafen anlaufen konnte – den von Alexandria. Die heutige ägyptische Millionenstadt am Nildelta war eine antike griechische Stadtgründung und hat noch immer den größten Seehafen des Landes.

Aber was trieb die Griechen aus ihren Poleis, den Stadtstaaten rund um die Ägäis, aufs Meer hinaus zu neuen Ufern? Viele Historiker gehen bis heute davon aus, dass der Mangel an fruchtbarem Land im griechischen Kerngebiet ein Motiv für die Gründung ihrer Kolonien war. Dürren, Missernten und eine rasch wachsende Bevölkerung zwangen die Menschen in neue, meist unerschlossene Gebiete, um einen Neuanfang zu wagen. So wurde die Küstenregion des heutigen Libyen in der Antike wegen ihrer fruchtbaren Erde gepriesen und sogar als »erlesener Garten des Zeus« bezeichnet. Solche Aussichten zogen viele griechische Siedler an: Sie betrieben Ackerbau, Viehzucht und regen Handel, brachten Wohlstand und frühe Demokratie mit und bauten Tempel und Theater.

Von letzteren sind nur noch Ruinen übrig, aber die Gegend um die einstige reiche Polis Kyrene ist noch heute eine der größten Wirtschaftszonen in dem ansonsten vom Wüstensand bedeckten Land. Der Handel war, neben der Suche nach Land als Lösung der Überbevölkerung, schon damals eine der größten Antriebskräfte für den Pioniergeist griechischer Siedler im gesamten Mittelmeerraum – und oft wurde in den Überlieferungen nicht zwischen Kolonie und Handelsstützpunkt unterschieden.

Die antike griechische Kultur verbreitete sich vor allem in den Küstengebieten rund um das Mittelmeer und seinen zahllosen Inseln. Diese Siedlungsweise veranlasste schon den großen Staatstheoretiker Platon zu der Bemerkung, die Griechen säßen um das Mittelmeer herum wie »Frösche um einen Teich«. Mit dem Rücken zum Land, den Blick auf das weite Meer gerichtet: Eine Vorstellung von der Welt, die die meisten griechischen Stämme, gleich ob sie gerade Verbündete oder Gegner waren, teilten. In ihrem Selbstverständnis als Thalassokratien, also etwa »Meeresherrschaften« oder eben Seemächte, waren sie sich einig.

Auch in außereuropäischen Kulturen wurden die Griechen – auf ganz unterschiedliche Weise – vor allem als Seefahrer wahrgenommen. Die Assyrer bezeichneten die Griechen als »Piraten aus dem Westen«, in alten indischen Epen werden sie dagegen als ausgezeichnete Seefahrer und Nautiker gerühmt. Im Orient ließ ein strafender Gott fast alles Leben in einer Sintflut ertrinken oder teilte die Wassermassen – göttliches Wunder – um es kurz darauf wieder zu schließen. Im griechischen Kulturverständnis hingegen galt die Beherrschung des Meeres als Befreiung von autoritären Instanzen, als Spitze menschlicher Leistungskraft – auch wenn ihr Meeresgott Poseidon die See noch so sehr aufbrausen ließ.


»Städte am Meer weisen eine bestimmte Verderbnis und Veränderlichkeit des sittlichen Zustands auf.«

Cicero, De re publica


Rom, die erste maritime Supermacht

Diesen maritimen Herrschaftsanspruch hatte auch das antike Rom für den Mittelmeerraum. Zwar war die Römische Republik, und später das Römische Kaiserreich, vor allem eine über weite Teile Europas, Kleinasiens und Nordafrikas herrschende Landmacht. So spottete noch Cicero in »de re publica« 50 v. Chr. über die von Rom damals längst eroberten griechischen Poleis: »Städte am Meer weisen eine bestimmte Verderbnis und Veränderlichkeit des sittlichen Zustands auf«. Andererseits bezeichneten die Römer das Mittelmeer machtbewusst als »Mare Nostrum«, als »Unser Meer«.

Gleichwohl besaßen ›untergegangene‹ griechische Seemächte wie Athen, Korinth und Syrakus auch für die Römer klangvolle Namen. In sogenannten Naumachien ließ man noch zu Ciceros Zeiten berühmte Seeschlachten, wie die von 480 v. Chr. zwischen Griechen und Persern, nachstellen. Offenbar machte diese auf die Römische Marine auch noch vier Jahrhunderte später einen großen Eindruck. Denn in vielem galt Griechenland den Römern als Vorbild, neben religiösen Adaptionen waren es solche aus Kunst, Architektur und Philosophie. Doch warum konnte Rom die Vorherrschaft im Mittelmeer schließlich im 1. Jahrhundert v. Chr. gewinnen?

Im westlichen Mittelmeer hatten die Römer mit Karthago eine See- und Handelsmacht in langwierigen Kriegen besiegt und dabei ihre eigene Flotte immer weiter ausgebaut und technisch verbessert. Im Westen setzte nun der Atlantik dem Eroberungshunger eine – vorläufige – Grenze: Die Säulen des Herakles, lateinisch Hercules, an der Meerenge von Gibraltar. Auch für die Griechen galt sie noch als das Ende der bewohnten Welt, der Sage nach brachte der Halbgott hier den Hinweis »Nicht mehr weiter« – Non plus ultra, an. Nun wandte sich Rom verstärkt den im östlichen Mittelmeer gelegenen griechischen Staaten zu.

Durch sein militärisches Eingreifen in die Konflikte zwischen den verschiedenen griechischen Staaten, die seit Alexander dem Großen nicht mehr geeint waren, zeigte Rom zum ersten Mal auch in den östlichen Gewässern deutliche Präsenz. Den häufigen Seitenwechsel der unterschiedlichen griechischen Bündnisse, mal pro-, mal antirömisch, nutzte Rom immer wieder geschickt aus. Die technische und zahlenmäßige Überlegenheit ihrer Flotte und die Kombination von Land- und Seekrieg, brachte schließlich auch im Osten des Mittelmeeres die römische Dominanz. Die Zerstörung des letzten Widerstandszentrums Korinth hatte den endgültigen Verlust der Eigenständigkeit Griechenlands zur Folge – es wurde zur römischen Provinz.

100 Jahre nach Christi Geburt befand sich das Prinzipat schließlich auf dem Höhepunkt seiner Macht und in seiner größten Ausdehnung. Zum ersten Mal in der Geschichte stand nun die gesamte Mittelmeerküste unter der Herrschaft eines einzigen Reiches – dem Imperium Romanum. Drei Kontinente – Europa, Asien und Afrika – wurden von Rom, sei es durch Handel und Kultur und immer wieder auch durch Kriege, miteinander verbunden. Latein wurde zur dominierenden Verkehrssprache im Mittelmeerraum, im östlichen Teil blieb Griechisch daneben erhalten. Geteilt wurde dieser maritime Binnenraum erst wieder, als das Imperium im Westen des 5. Jahrhunderts n. Chr. zerfiel. Im Osten blieb es als Byzantinisches Reich oder »Ostrom« noch bis zum Einfall der Araber und später der Türken, die einzige ernst zu nehmende ›Supermacht‹ des Mittelmeeres.

Teil 2: Das Goldene Horn, Ende Europas.


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