Bildmontage Hesperus (stock.adobe.com)


Andreas Jürgens

Ist Musik eine Universalsprache oder kulturell verankert? Überall bewegt und beeinflusst sie Menschen: sie bringt uns in Hochstimmung, kann entspannen oder gar Aggressionen auslösen. In manchen Regionen ist sie verboten, weil man ihre Kraft fürchtet, anderenorts ist sie heilig. Wie wirkmächtig ist Musik, dass sie seit Jahrtausenden durch die Menschheitsgeschichte erklingt – und welche Rolle spielt Europa dabei?

Teil 2: Europa wird mehrstimmig

Tauben gelten im Allgemeinen nicht als menschenscheu, ganz im Gegenteil: sie können einem schon mal lästig werden. Aber vielleicht sollten Sie, wenn sich Ihnen eine Taube gurrend nähert, ganz genau hinhören – es könnte wichtig sein. Im frühmittelalterlichen Rom jedenfalls hörte Papst Gregor I. einer Taube, die sich eben auf seine Schultern gesetzt hatte, aufmerksam zu. Aus ihrem Gurren meinte er nämlich zu erkennen, wie er die bisher mündlich überlieferten Melodien der liturgischen Gesänge schriftlich festzuhalten hatte. Inspiriert von diesem Symbol für den Heiligen Geist, der Taube, schuf Gregor der Legende nach eine Notation, die beides – Text und Klang – in eine einheitliche, die Zeit überdauernde Form bringen sollte.

Ordnung ist das halbe Lied

Eine weltliche Erklärung für den Bedarf an musikalischen Regelwerken findet sich im Bestreben Karls des Großen nach Ordnung und Identitätsstiftung. Das war wichtig in seinem Reich, das sich vom Atlantik bis zur Ostsee und von der Nordsee bis zum Mittelmeer erstreckte. Karls Admunitio generalis von 789 schuf die Voraussetzung für ein Bildungssystem, das auch die Liturgie, und damit den Gesang, ordnen sollte. Sogenannte Neumen, Zeichen die über dem eigentlichen Text standen, wurden jetzt verwendet. Um 1025 schuf der Mönch Guido von Arezzo eine Notationsart, welche den Grundstein für die heutige Notenschrift legte. Nun konnten auch Intervalle und Tonarten des nach Papst Gregor benannten »Gregorianischen Chorals« festgehalten und die Chöre der weit über Europa verstreuten Kirchen und Klöster ›synchronisiert‹ werden.

In seiner ursprünglichen Form war der Gregorianische Choral noch einstimmig und ohne instrumentale Begleitung. Die Kirchengewölbe bildeten schon damals beeindruckende Klangkörper, die wegen ihrer langen Nachhallzeit noch heute für Musiker zur Herausforderung werden können. Doch den frommen Sängern des Mittelalters genügte das bald nicht mehr. Spätestens ab dem 9. Jahrhundert gewann ein ausschmückender Gesang an Bedeutung, der zum Wegbereiter der Polyphonie, eine die europäische Kunstmusik von allen anderen Musikkulturen unterscheidende Mehrstimmigkeit, wurde. Auch die Orgel, deren Frühform schon als Hydraulis im antiken Griechenland und Rom gespielt wurde, entwickelte ihre Rolle als liturgisches Hauptinstrument.


Der über 1000 Jahre alte Gregorianische Choral gilt als das älteste heute noch praktizierte musikalische Repertoire.


Das über 1000 Jahre alte kulturelle Erbe des Gregorianischen Chorals wird von der Kirche bis heute gepflegt – es gilt als das älteste heute noch praktizierte musikalische Repertoire. Für viele Mönche ist er Teil ihrer täglichen Routine, mehrere Stunden widmen sie dem Gesang aus dem Mittelalter, gesungen wird – auf Latein. Ein Publikum bräuchten sie dabei eigentlich auch gar nicht, schließlich singt man für die Seele. Trotzdem ziehen die Gesänge mit ihrer mystisch-meditativen Wirkung auch viele Menschen außerhalb der Kirchen an.

In dunkle Kutten gehüllt, die Gesichter mal im Schatten ihrer Kapuzen verborgen, mal vom Scheinwerferlicht geisterhaft angestrahlt, holen sie die alten Gesänge aus den Kathedralen in die Konzerthallen. Doch hier stehen keine Mönche auf der Bühne, sondern Sänger und Musiker. Klassisch ausgebildet zwar, aber von Synthesizern, E-Gitarren und Schlagzeug begleitet, packen heute Bands wie »Gregorian« so ziemlich jeden profanen Musikstil in eine gregorianische Hülle. Das mittelalterliche Regelwerk der Mönche, die alte Ordnung ist hier außer Kraft gesetzt, Tradition und Moderne – hier kreuzen sie sich zum »Gregorian Pop«. Von der Messe in die Masse, inklusive Lightshow und Pyrotechnik. Aber schon im Mittelalter wurden die musikalischen Regeln gebrochen und eine unabhängige ›Unterhaltungsmusik‹ entwickelte sich.

Frauenverehrung als Programm

Marktgeschrei mischt sich mit Gänseschnattern, Händler bieten ihre Ware feil, »Spielleute« tragen ihre Trink- und Liebeslieder vor – begleitet von Flöten, Geigen, Schellenringen und lauten Becken. Man prahlt mit »Tatenliedern«, mit Chansons de geste, und weil sich die Botschaft nicht nur bei den lateinischsprachigen Gelehrten verbreiten soll, singt man in der jeweiligen Landessprache. Besungen werden nicht nur vermeintliche oder echte Heldentaten, sondern auch die ›Tagespolitik‹ oder die unerreichbare, verehrte Frau – die »Herrin«. Beklagt werden aber auch moralische Missstände, nicht zuletzt die des Klerus.

Musikalische Begabung allein reichte schon damals nicht aus, auch ›erfinderisch‹ musste man sein, um sein Publikum zu finden. Der Troubador, dessen Name sich vom provençalischen trobar für »(er)-finden« ableitete, deckte ein breites Repertoire unterschiedlichster Inhalte ab. Im damals kulturell hoch entwickelten Südfrankreich ging es vor allem um aristokratische Themen wie Ritterlichkeit und Sittlichkeit – aber auch um die weltliche Liebe. Von der »Mutter der abendländischen Kunstmusik«, dem Gregorianischen Choral, hatte man sich allein damit schon abgesetzt, aber nicht abgenabelt.

Seine künstlerische Eigenständigkeit entwickelte auch ein Musikertypus, der ab dem 13. Jahrhundert vermehrt in Erscheinung trat: der mittelalterliche »Berufsmusiker«, der von Hof zu Hof zog, oder sogar selbst dem Adelsstand angehörte. In Deutschland fand dieser zu seiner Hochform im »Minnesang«, der Liebeslyrik, die abermals die Frauenverehrung in den Mittelpunkt stellte. Von dem wohl bekanntesten Minnesänger, Walther von der Vogelweide hat sich allerdings nur ein Werk aus dem Jahr 1229 vollständig zusammen mit seiner Melodie erhalten: Das »Palästinalied« des fünften Kreuzzuges.

Aufzeichnungen über Spielweise und Interpretation profaner mittelalterlicher Melodien sind spärlich, die Mönche in den klösterlichen Schreibstuben waren am musikalischen Geschehen außerhalb der Kirchen, zumindest offiziell, wenig interessiert. Eine besondere Sammlung von überwiegend weltlichen Liedern aus dem 13. und 14. Jahrhundert, hatte sich allerdings im bayerischen Kloster Benediktbeuren erhalten. Wie die Liebes- und Trinklieder zu den Mönchen kamen, ist unbekannt … Erst 1937 wurden sie vom Komponisten Carl Orff ›modern‹ neuvertont: die »Carmina Burana«, die Beurener Lieder. Wenn sie auch nicht verboten wurden, den damaligen Machthabern soll ihre Aufführung überhaupt nicht gefallen haben. Vielleicht beschlich sie eine Ahnung, dass es mit ihren 1000 Jahren nichts werden würde, denn gleich zu Beginn schmettert der Chor↗:

»O Fortuna velut Luna
statu variabilis /
Schicksal, wie der Mond dort oben,
so veränderlich bist Du …

Codex Manesse, Alram von Gresten
Codex Manesse, Universitätsbibliothek Heidelberg

Amor auf dem Wappen: Ein Minnesänger und seine »Herrin«



Orlando di Lasso beherrschte Trinklieder so gut wie Bußpsalmen und war der europäische Musikstar der Renaissance.


Wiedergeburt aus der ›Düsternis‹?

Die Kulturepoche der Renaissance, der »Wiedergeburt«, wird heute oft als eine Zeit beschrieben, die den Anspruch hatte, sich vom vermeintlich düsteren Mittelalter zu verabschieden. Zugleich wollte man aber die Ideale der Antike wiederbeleben. Das mochte auf Philosophie, Literatur oder Architektur zutreffen – aber welche ›Musik der Antike‹ sollte hier wiedergeboren werden? Vielmehr waren es die bahnbrechenden Neuerungen und Umbrüche, die diese Zeit prägten: Die Entdeckung der beiden Amerikas, die rasante Entwicklung der Naturwissenschaften, aber auch Religionskriege. Mit der Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts verbreiteten sich neben Texten auch Notationssysteme. Die Mehrstimmigkeit setzte sich endgültig durch und die Musik wuchs zunehmend über ihren liturgischen Rahmen hinaus.

Nun traten auch die Komponisten selbst aus der ›Düsternis‹ in das Tageslicht, sie waren nun keine anonymen Tonkünstler mehr. Der frankoflämische Musiker Guillaume Dufay galt bereits mit 20 Jahren als gefragter Komponist und mit seinem »Nuper rosarum flores« wurde 1436 der berühmte Dom zu Florenz geweiht. Dufay ›tourte‹ bereits durch ganz Europa, mit einem Repertoire, das fast alle damaligen Musikgattungen umfasste: Geistliches wie Messen und Motteten, weltliches wie Chansons und Ballate, – auf lateinisch, französisch und italienisch.

Der Niederländer Orlando di Lasso beherrschte Trinklieder so gut wie Bußpsalmen und war als Sänger, Komponist und späterer Hofkapellmeister der europäische Musikstar der Renaissance. Aus sogenannten einfachem Hause stammend, war er zunächst Chorknabe, wurde dann wegen seiner hohen, lieblichen Stimme mehrmals von ›Talentscouts gekidnappt‹ – und gelangte so nach Italien. Seine musikalische Karriere führte ihn nach Mailand, Palermo und Rom, später nach Antwerpen, dann für 40 Jahre nach München. Stilistisch nutzte er alle Mittel seiner Zeit, mischte sie sogar innerhalb einer Komposition, wofür ihm die Musikwissenschaft eine »beseelte Verrücktheit« attestiert und ihn zugleich als einen Pionier einer »internationalen Musik« beschreibt.

Gegenüber dem Hofbräuhaus am Münchner Platzl, wo heute zünftige Blasmusik gespielt wird, lebte di Lasso, der die derbe Sprache pflegte, aber eher dem Wein als dem Bier zusprach, bis zu seinem Tod 1594. Der Princeps musicorum, »Fürst der Musiker« wie er schon zu Lebzeiten genannt wurde, hinterließ ein beeindruckendes Œuvre von über 1300 Kompositionen, darunter hunderte Madrigale – die polyphonen Vokalstücke –, französische Chansons, deutsche Lieder und Psalmvertonun­gen.

Eine schiefe Perle

Mit der stilistischen Vielfalt wuchs auch die Zahl der Musikinstrumente und umgekehrt bereicherten ihre neuen Möglichkeiten die Kompositionen. Seit der »Schwanenknochenflöte« aus dem heutigen Baden-Württemberg, dem mit 40.000 Jahren wohl ältesten Instrument der Welt, hatte sich viel getan: Violinen aus Cremona, Cembali aus Antwerpen, Lauten aus Tirol und Oboen aus Paris, dazu Schellen, Pauken und Trommeln. Auch die Orgel wurde immer mehr zum Soloinstrument. An der Schwelle zum 17. Jahrhundert stand den Komponisten bereits ein enormes Klangspektrum zur Verfügung. Das reine Musizieren auf Instrumenten wurde allerdings lange gering geschätzt, die »Spielleute« auf den Märkten waren nicht hoch angesehen, die Vokalmusik stand im Mittelpunkt. Doch nun wurden auch virtuose Musiker als Künstlerpersönlichkeiten anerkannt.

»Barocco« – seltsam und schief wie eine unregelmäßige Perle, so lautete das Urteil der Zeitgenossen am Beginn dieser Epoche. Im Barock setzte sich die Instrumentalmusik als eigenständige Form durch. Doch wo bislang Text und Gesangstimme der Melodie als Struktur dienten, brauchte man ein formales Klanggerüst mit Führungsqualität: Der Generalbass, der Basso continuo, trat auf den Plan und hielt Soloinstrumente wie Flöte und Violine mittels einer durchgehenden Grundlage aus Kontrabass, Violoncello oder Cembalo harmonisch zusammen.

In den folgenden eineinhalb Jahrhunderten entfaltete sich eine melodische Verspieltheit, die sich auch in der überbordenden Architektur und der aufwendigen Mode der Zeit widerspiegelte. Aber zwischen Puder, Perücken und Prunkbauten wurde aus der ›schiefen Perle‹ schnell ein Musikstil, deren Klangfülle alles Bisherige in den Schatten stellte. Gefühle und Stimmungen, hier wurden sie als »Affekte« in musikalischer Form zum Ausdruck gebracht – und eine neue Gattung entstand, in der Gesang, Instrumentierung und Schauspiel miteinander verschmolzen.

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Johannes Voorhout, Public domain, Wikimedia Commons

Musizierende Gesellschaft 1674: Aus der ›schiefen Perle‹ wurde ein Musikstil mit enormer Klangfülle.


Eine Fabel, gesetzt in Musik

Ein prächtiges Feuerwerk spiegelte sich in den Kanälen, die Paläste und Plätze waren voller festlich gekleideter Menschen, mit bunt verzierten Masken und extravaganten Hüten. Auf dem Wasser: geschmückte Gondeln und Boote. Auf den Bühnen: Jongleure, Tänzer und – Musiker. Protzig und pompös sagte man dem »Fleisch lebe wohl. Carne vale!«

Die Lagunenstadt Venedig: Eine perfekte Kulisse für die Musik des Barock. Hierher kam 1613 der aus der Geigenbaustadt Cremona stammende Claudio Monteverdi, um die Stelle des Kapellmeisters am Markusdom anzutreten. Geistliche Musik sollte er hier, unter den prächtigen Kuppeln der venezianischen Kathedrale, komponieren. Doch er hatte mit »L’Orfeo« bereits seine Favola in Musica, eine in Musik gesetzte Fabel, wie er sie nannte, mit im Gepäck. Die Oper war geboren – und Monteverdi war ihr Geburtshelfer. L’Orfeo erzählt die tragische Geschichte des Orpheus, Urtypus des Musikers, doch sie ist hier nicht nur ein thematischer Rückgriff auf die Antike. Der Komponist ließ die Schauspieler den Text in »Singsprache« vortragen, wie es schon von den alten griechischen Dichtersängern, den Aoiden, überliefert ist. Das Zusammenwirken der Musen, die »musiké téchne« der alten Griechen, scheint hier noch einmal durch.

Überschwängliche Freude und schmerzvolles Klagen, Leben und Tod – Monteverdi kontrastierte sie auch durch die unterschiedliche Zuweisung der Instrumente. Saiteninstrumente und Flöten begleiten die Verliebten im irdischen Leben. Orpheus Weg durch die Unterwelt, den Hades, wird dagegen von Orgeltönen und Posaunen getragen. Gleich zu Beginn, im »Prologo della Musica«, nimmt eine Sopranstimme, als personifizierte Musik, die eigentliche Botschaft vorweg – die Macht der Melodien über unsere großen Gefühle:

»Ich bin die Musik‘, die mit lieblichen Tönen
dem verwirrten Herzen Ruhe schenkt.
Bald zu edlem Zorn, bald zur Liebe vermag ich
selbst eiserstarrte Sinne zu entfachen.«

Hinter einer Ziegelsteinmauer verbirgt sich heute, geschützt vor den neugierigen Blicken der Touristen, ein kleiner Garten. Dort, wo heute nur noch ein paar der in Venedig ohnehin seltenen Bäume stehen, gelangte man vor fast 400 Jahren von der Gondel aus durch einen schmalen Torbogen in das »Teatro San Cassino«. Das erste öffentliche Opernhaus der Welt wurde hier 1637 eingeweiht. Fanden Aufführungen bis dato nur an wechselnden Orten, vor einem kleinen aristokratischen Publikum statt, hatte die Oper nun ein festes Zuhause, einen Spielort mit durchgängigem Betrieb – und jeder Bürger konnte eine Eintrittskarte kaufen.

Das einzigartige Hörerlebnis, die ›Gemütsbewegungen‹, welche die großen Kompositionen beim Zuhörer hervorriefen, sie sollten nicht mehr nur den adligen Ohren der höfischen Gesellschaft vorbehalten bleiben. Von nun an hieß es: Bühne frei fürs – zahlende – Volk. Das Teatro San Cassino existiert zwar längst nicht mehr, doch kamen seitdem immer neuere, größere Opernhäuser hinzu, die sich von Italien aus über Europa und schließlich die ganze Welt verbreiteten.


»Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen: wegen seines unendlichen, unerschöpflichen Reichtums an Tonkombinationen und Harmonien«.

Ludwig van Beethoven


Der letzte Barocker

Obwohl die Oper in der Barockzeit zum Leben erwachte, hat einer ihrer bekanntesten Tonkünstler nie eine geschrieben: Johann Sebastian Bach. Seine Bühnen waren vor allem die Kirchen. Bachs Oratorien und Kantaten setzten die biblischen Erzählungen bereits so emotional in Musik, wie es eine Opera seria, eine »ernste italienische Oper«, nicht besser hätte ausdrücken können. Die dreistündige »Matthäus-Passion« – getragen von gleich zwei Chören und zwei Orchestern! – gilt bis heute als Meilenstein der Kirchenmusik. Aber auch seine ›weltlichen‹ »Sechs Brandenburgischen Konzerte« zählen zu den barocken Evergreens – ein tonales Feuerwerk, melodisch verspielt, beinahe verschwenderisch. Er widmete sie dem Markgrafen von Brandenburg, der sie aber mangels Musiker nicht aufführen ließ. Wenn Bach die Concerts als Einstiegschance zu einer möglichen Berliner Musikkarriere sah, wäre diese wohl an preußischer Sparsamkeit gescheitert.

Anders als vielen Komponisten, die zwischen den Musikmetropolen Europas hin und her reisten, fehlte Bach diese Art von ›Weltläufigkeit‹. Sein Lebenskreis beschränkte sich auf Mitteldeutschland, zwischen seiner Geburtsstadt Eisenach und der wichtigsten seiner Wirkungsstätten, der Musikstadt Leipzig, liegen gerade einmal 160 Kilometer. Im Jahr 1723 wurde er als Kantor an die Leipziger Thomaskirche berufen, komponierte quasi jede Woche ein kleines Meisterwerk, verantwortete aber als Director musice auch das gesamte städtische Musikwesen Leipzigs. Schließlich gab er mit seinen Studenten auch noch Kaffeehauskonzerte und führte dabei ein sogenanntes Clavicymbel, ein frühes Hammerklavier ein.

Den geographischen Mangel an Auslandserfahrungen machte der Meister aus Eisenach mit dem eifrigen Studium unterschiedlichster Stile bis hin zu Volksliedern wieder wett: Als Komponist eigentlich Autodidakt, tauchte Bach tief in die europäischen Musiktraditionen ein und entwickelte daraus seinen ganz eigenen »vermischten Geschmack«. Er wurde zum großen Vorbild für nachfolgende Generationen. »Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen: wegen seines unendlichen, unerschöpflichen Reichtums an Tonkombinationen und Harmonien« – so Ludwig van Beethoven noch ein Jahrhundert später.

Johann Sebastian Bachs musikalisches »Allinteresse« und seine Lust, Horizonte zu erweitern, wiesen schon den Weg in eine neue Epoche. Zwar galt die barocke Musik bald nach seinem Tod 1750 unter Kritikern als veraltet, doch der kompositorische Reichtum, den Bach hinterließ, bildete bereits die Grundlage für die Werke, die von da ab »klassisch« werden sollten. Für Joseph Haydn, einen der bekanntesten Vertreter dieses neuen Stils, war Bach zwar noch »der Mann, von dem alle wahre musikalische Weisheit ausgehe«. Aber nun war die Zeit reif für etwas Neues, etwas das seinen Siegeszug von Wien ausgehend durch ganz Europa und schließlich in die Welt antrat …


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