Notre Dame – Next Level


2019 zerstörte ein verheerendes Feuer große Teile der berühmtesten Kathedrale der Welt – Notre-Dame de Paris. Nun erstrahlt eines der frühesten Bauwerke der Gotik in neuer, alter Pracht.

Notre Dame Paris
Dahl – stock.adobe.com

Hesperus

Seit über acht Jahrhunderten thront sie auf der Île de la Cité zwischen den Ufern der Seine. 2019 zerstörte ein verheerendes Feuer große Teile der berühmtesten Kathedrale der Welt – Notre-Dame de Paris. Die Brandursache ist bis heute ungeklärt. Doch kaum war der Rauch verzogen, entschied man inmitten der Asche: Wir bauen sie wieder auf. Nun erstrahlt eines der frühesten Bauwerke der Gotik in neuer, alter Pracht.

Für den italienischen Kunsthistoriker Giorgio Vasari war die Sache klar – barbarisch und fremdartig war dieser, ursprünglich nördlich der Alpen entstandende, Stil. Vasari prägte auch den etwas willkürlichen gewählten Begriff Gotico, abgeleitet von den germanischen Goten, und verwendete ihn überaus abwertend für die mittelalterliche Bauweise. Eine Zeit der architektonischen Barbarei habe geherrscht: »Sie bauten nichts, was Anmut, Form oder Vernunft in Bezug auf Ordnung oder Maß hatte«, so schrieb er 1550 im Vorwort seines Werkes »Le vite«.

Fast 400 Jahre zuvor hatte man auf der Pariser Stadtinsel, dem historischen Zentrum, damit begonnen, eine Kathedrale zu Ehren der Jungfrau Maria, Unsere (liebe) Frau, Notre-Dame, zu bauen. 1163 wurde in Anwesenheit des Papstes der Grundstein gelegt – damit ist sie nach der Kathedrale in Saint-Denis die zweitälteste Kirche im »Gotischen Stil«. Etliche sollten ihr zwischen dem 12. und frühen 16. Jahrhundert noch folgen: in Deutschland und England, aber auch in Spanien und – zu Vasaris Leidwesen – reichlich in Italien.

Nach knapp 200-jähriger Bauzeit wurde sie 1345 vollendet und ist bis heute eines der bedeutendsten Wahrzeichen der französischen Hauptstadt und eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten in Europa überhaupt. Eine solch lange Bauphase brachte viele Generationen von Baumeistern hervor, Menschen, die nicht nur ihr Handwerk beherrschten, sondern antraten etwas Neues, wenigstens aber Verbesserungen zu schaffen.

Zweierlei Kronen

Schon im Jahr 1220 brannte der Dachstuhl von Notre Dame und man nahm dies zum Anlass für Modernisierungen: Waren bisher massive Mauern nötig, um die tonnenschwere Last der Dachgewölbe zu tragen, wurde diese nun auf filigranere Säulen und Bögen verteilt, die der Kirche ihren typisch gotischen Charakter verleihen. Mit aus heutiger Perspektive erstaunlicher Präzision wurde allmählich ein Bauwerk erschaffen, dessen einzelne Elemente bis auf wenige Millimeter genau miteinander übereinstimmen.

Doch nicht nur Brände brachten Notre-Dame in Gefahr: In den Wirren der Französischen Revolution wurde sie geplündert, als Weinlager benutzt und viele ihrer kunstvollen Statuen ›enthauptet‹. Man plante gar, die ganze Kathedrale einfach abzureißen und ihre Steine zu verkaufen. »Maskeraden«, Feste, die Religion und Anbetung verspotten sollten, wurden veranstaltet und als eine Art Ersatzreligion wiederum der »Culte de la Raison«, gegründet, der »Kult der Vernunft«. Doch was wäre ein Kult ohne einen Tempel?

So ließ man die Kathedrale schließlich stehen und widmete sie um in den »Tempel der Vernunft«. Bald darauf folgte noch ein kurzlebiger Kult des »höchsten Wesens«, die Guillotinen sausten auf die Köpfe herab – auf adelige wie auf revolutionäre – bis sich schließlich 1804 ein ehemaliger Revolutionsgeneral in Notre Dame, wiederum in Anwesenheit eines Papstes, selbst seine Kaiserkrone aufsetzte.

Verehrt wird dort aber heute nicht die Krone des selbstgekrönten Napoleon I., sondern eine Reliquie, die himmlische Macht symbolisiert: Christi Dornenkrone gelangte vermutlich um 1238 aus dem Heiligen Land über Umwege nach Frankreich und wurde nach der Revolution in Notre-Dame aufbewahrt, wo sie 2019 ein mutiger Kaplan und Seelsorger der Feuerwehr vor den Flammen rettete. Auch ein Klangwunder, die über Jahrhunderte immer wieder ausgebaute Orgel mit ihren heute fast 8000 Pfeifen, überstand die Feuersbrunst.

Ein gemeinsames Erbe

Von den vielen Baugerüsten befreit, entfaltet die Kathedrale nun auch ihre akustische Pracht wieder voll und ganz. Notre-Dame hat ihre Stimme, besser gesagt ihre Stimmen wiedergefunden, denn eine alte europäische Musiktradition ist eng mit ihr verbunden: Die im Mittelalter entwickelte und anfänglich zumeist in Klöstern gepflegte »Mehrstimmigkeit« verlagerte sich mit zunehmender Bedeutung Notre-Dames als geistliches Zentrum Frankreichs in die Kathedrale, sodass man in der Musikgeschichte sogar von einer »Notre-Dame-Epoche« spricht.

Blickt man auf die architektonische Pracht der knapp 70 Meter emporragenden Türme, der Portale, Rosenfenster und Skulpturengruppen von Notre-Dame, wird ihre Bedeutung für die Europäische Kultur weit über die Religion hinaus deutlich – sie zählt zum UNESCO-Weltkulturerbe. International waren deshalb nicht nur die Anteilnahme und der Schock über ihre Zerstörung beim Brand von 2019, sondern auch die Hilfsbereitschaft: Über 840 Millionen Euro aus rund 150 Ländern kamen zusammen.

Wenn auch die Restaurierung im besonderen nationalen Interesse der Franzosen lag – fast 1000 auch ausländische Fachleute, darunter Steinmetze und Dachdecker, Restauratoren und Archäologen, waren an der Wiederherstellung des Wahrzeichens beteiligt. Vom belgischen Orgelbauer bis zum amerikanischen Zimmerer, sie alle waren sich des gemeinsamen historischen Erbes bewusst. Für die Dauer der Arbeiten zogen einige von ihnen sogar mit ihren Familien nach Frankreich, andere Objekte wurden vertrauensvoll zur Restaurierung in die Nachbarländer gegeben.

Glockenklöppel, wie sie der bucklige Quasimodo in Victor Hugos Roman »Der Glöckner von Notre Dame« schlug, lieferte ein Familienbetrieb aus Bayern. In der Kölner Dombauhütte – der ebenfalls gotische Kölner Dom ist ›nur‹ etwa 85 Jahre jünger als seine französische ›Schwester‹ – restaurierte man die 30 Quadratmeter großen Fenster. Sie tragen nun dazu bei, dass auch das Innere der Kathedrale wieder in hellem Licht erstrahlt. Von den Trümmern und Rußspuren befreit, sehen die weißen Säulen und Gewölbe aus Kalkstein aus, als wären sie gerade frisch aus den Steinbrüchen des Pariser Umlands geschlagen worden.

Flammender Zeitgeist

Nun kann man über Zeitgeistiges wie den neuen minimalistischen Design-Altar oder die modisch-liturgischen Gewänder geteilter Meinung sein. Besserwisser mögen auch einwenden, dass viele Bereiche der Kathedrale früher doch gar nicht aseptisch weiß, sondern bunt ausgemalt gewesen seien (und dabei ignorieren, dass diese gerade wieder, vom jahrhundertealten grauen Schmutz befreit, in frischer Farbigkeit leuchten). Notre-Dame jedenfalls wird sicher noch viele weitere Jahrhunderte auf der Île de la Cité thronen – und sich dabei verändern, wie die Menschen, die sie anbeten oder einfach bestaunen möchten.

Nur die Brandursache ist immer noch ungeklärt. War es ein achtlos weggeworfener Zigarettenstummel oder gar, wie auch behauptet wird, eine Taube, die ein Kabel mit sich riss, ein Kurzschluss? Klar ist dagegen: In Frankreich sind jedes Jahr mehr als 1000 Kirchen das Ziel von Vandalismus bis hin zu Brandstiftungen – auch wenn die Brandstifter heute nicht mehr »Liberté, Égalité, Fraternité« zu ihrem bevorzugten Wahlspruch machen.

An Anziehungskraft auf Menschen aus aller Welt hat dieses europäische Wahrzeichen nie verloren, ganz im Gegenteil: Vor dem Brand besuchten etwa 12 Millionen Menschen Jahr für Jahr die Kathedrale, bald sollen es 15 werden. Eintrittsgeld wird für den Besuch dennoch nicht verlangt – damit hatte sich das Erzbistum Paris gegen das französische Kulturministerium durchgesetzt. Eine Kathedrale ist schließlich kein Museum.


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